Die große Elchwanderung – live auf SVT Play.
Ich sitze da, in meiner Küche, der Bildschirm vor mir aufgeklappt wie ein Fenster in ein anderes Leben. Draußen hat der Wind schon an den Häusern gerüttelt, aber hier drin ist es still. Der Espresso dampft noch, obwohl ich längst weiß, dass ich ihn nicht trinke werde. Ich schiebe ihn ein Stück von mir weg, als würde er mich sonst zur Vernunft rufen.
Er ist mehr Geste als Getränk, eine Handlung, die mir das Gefühl gibt, ich sei noch Teil eines Tages.
Ich bin so unendlich müde.
Nicht nur von schlechtem Schlaf oder der Arbeit der letzten Jahre. Es ist eine andere Müdigkeit. Eine, die sich nicht mit Schlaf beheben lässt.
Die Arbeit hat sich eingeschrieben.
In meinen Körper.
In meine Haltung.
In meine Sprache.
In meine Müdigkeit, die sich nicht vertreiben lässt.
Sie sitzt in den Schultern. Ist in den unteren Rücken gekrochen.
Klebt hinter den Augen.
Sie trägt keinen klinischen Fachbegriff.
Sie ist einfach da, wie eine zweite Haut.
Ich will nicht hier sein.
Natürlich nicht.
Ich will dort sein.
Draußen.
In den Waldschluchten, in den weiten Mooren, unter den Bäumen, die knarzen wie alte Stimmen. Im Regen, der wie Nadeln auf die Haut sticht. Im Wind, der einem das Haar zerzaust und das Denken gleich mit. Ich will, dass der Schnee mir in den Kragen schmilzt und dass meine Hände rot und taub werden vor Kälte. Ich will dort stehen, mit durchnässten Schuhen im Matsch, den Atem wie Nebel vor mir, und warten.
Warten, ob etwas kommt.
Warten, ob etwas geschieht.
Aber ich bin hier.
Im Warmen. In der Küche mit dem stillen Summen der Technik. Mit einer Internetverbindung und der Möglichkeit, per Mausklick mitten in Schweden zu sein.
Es ist seltsam, wie nah die Erinnerungen rücken, wenn man sie lässt. Wie sie sich anschleichen, wie Füchse durch den Nebel. Nicht die Vorstellung davon, sondern das Gefühl, das in einem hochsteigt, wenn das Bild plötzlich umschaltet auf eine jener stummen Kameras am Fluss, und man den Ton hört, der nicht mehr Ton ist, sondern Erinnerung. Als das Leben sich anders anfühlte, offener, klarer, weniger durchzogen von Zweck und Ziel.
Es gab nur das Gehen, das Schauen, das Warten.
Als ich fröhlich war, ohne zu wissen warum.
Unter den Sternen schlief ohne Zelt, nur weil ich es konnte. Als das Leben nach Erde roch und nach Baumharz.

Ein Tag mit den Elchen
Nichts. Wirklich nichts. Stundenlang.
Ich starre auf den Bildschirm, als hätte er mir ein Geheimnis zu verraten.
Aber da ist nichts. Nur ein bisschen Wind, der die Zweige bewegt. Der Ton knackt, ein leises Rauschen. Und dann fällt ein einzelner Tropfen auf ein Blatt, nah an der Kamera, und das Geräusch ist plötzlich alles. Es donnert in der Stille, als hätte jemand eine Geschichte begonnen.
Das Bild schaltet um – ein anderer Ort, näher am Wasser. Das Rauschen ist lauter hier. Der Wind braust. Ich lehne mich zurück, ziehe die Knie an den Körper wie damals als Kind, wenn draußen ein Sturm tobte und ich hinter dem Fenster saß.
Eine Ente schwimmt heran. Sie taucht den Kopf ins Wasser, hebt ihr Enten-Hinterteil in den Himmel wie ein Gruß an den Unsinn des Lebens.
Ich grinse.
Und dann Krähen. Sie kommen plötzlich, kreischend, wild, wie aus dem Nichts. Sie stürzen sich auf einen Kadaver, zanken, flattern, zerren.
Und doch bewegt sich die Kamera nicht.
Sie bleibt.
Kein Effekt. Kein Schnitt.
Sie urteilt nicht. Sie zeigt nur, was ist.
Dann eine Eisscholle. Eine der letzten in diesem frühen Frühling. Träge, weiß, zerbrechlich treibt sie über das Wasser wie ein altes Lied, das keiner mehr singt. Ich sehe sie treiben und erinnere mich an einen Morgen, als ich selbst an einem Fluss wie diesem stand. Mein Atem war weiß und scharf, und ich wartete.
Ich wusste nicht, worauf.
Vielleicht auf das gleiche wie jetzt. Auf das Unerwartete, auf das Wilde, das nicht ruft, sondern einfach da ist. Auf das plötzliche Erscheinen von etwas das echt ist.
Und dann – wie aus dem Nichts – ein Kopf. Ganz hinten im Bild.
Ein Elch. Er hebt sich kaum ab vom Hintergrund, ist fast nur Schatten und Bewegung. Nur das Glitzern des Wassers an seinen Schultern verrät ihn.
Schwimmt er? Oder schreitet er einfach durchs Wasser, groß wie ein Baum, still wie ein Gebet?
Ich weiß es nicht. Aber mein Herz klopft plötzlich laut.

Das Wasser rauscht. Es fließt. Immer weiter, ohne Eile. Ohne Ziel.
Wenn ich aber hinschaue und Aufmerksam bin ist es mehr. Dann sehe ich alles. Strudel, die kommen und gehen. Muster, die der Wind auf das Wasser zeichnet, so zart wie Spuren im Schnee.
Und dann – ganz kurz – eine Spiegelung. Eine andere Welt, verkehrt herum. Dann ist sie wieder weg.
Vogelstimmen.
Ein Rascheln im Gehölz.
Ein Umschnitt.
Ein Waldstück, still, feucht, nah am Fluss.
Elche. Viele.
Sie stehen einfach da. Als wüssten sie, dass Zeit nicht vergeht, sondern sich nur dreht.
Sie schauen.
Einer kaut. Einer reibt den Kopf an einer Fichte.
Rinde bricht. Harz tropft.
Und in mir wird es ruhig.
Obwohl es Fernsehen ist.
Vielleicht liegt es daran, dass dies kein normales Fernsehen ist. Oder vielleicht gerade deshalb. Weil es sich weigert, mehr zu sein, als es ist. Kein Tamtam. Keine Schnitte im Sekundentakt, keine Musik, die mich auf Kommando fühlen lässt, was ich fühlen soll. Keine Stimmen, die mir erklären, was ich sehe.
Nichts davon.
Nur die Tiere.
Der Wald.
Der Fluss.
Es ist diese Weigerung, unterhaltsam zu sein und gefallen zu wollen, die mich so anzieht. Diese Ablehnung von Geschwindigkeit, von Reizüberflutung, von Aufmerksamkeit um jeden Preis.
Hier geschieht nichts. Und genau deshalb geschieht alles.

Abschalten wie eine Maschine
Ich habe lange funktioniert. Zu lange vielleicht.
Ich war verantwortlich – offiziell, aber auch unsichtbar. Immer da, nicht nur wenn es brannte. Immer dann, wenn die anderen längst nicht mehr konnten oder wollten. Die Mail um halb eins in der Nacht, wenn die Lichter der Bühne längst erloschen waren. Das Telefonat am Sonntagmorgen. Man arbeitet, obwohl nichts mehr da ist, aus dem man schöpfen kann. Wenn der Körper weitermacht, weil der Kalender es sagt.
Die Überstunden waren längst kein Ausreißer mehr. Sie waren Teil meines Atemrhythmus geworden, ein ständiges Ein und Aus, das sich nicht mehr hinterfragte. Ich kam früh, ging spät, oft irgendwie gar nicht.
War auf Abruf, immer erreichbar, nie wirklich da. Ich tat es, weil es getan werden musste – und weil ich es konnte.
Ich wusste das, und ich wusste auch, dass sich niemand darum kümmerte, solange alles lief. Es ging um Abläufe, Prozesse, Zuständigkeiten. Ich war gut in meinem Job, weil ich funktionierte, weil ich nicht auffiel. Die Geschäftsführung lobte mein unauffälliges Funktionieren, diese merkwürdige Fähigkeit, nicht zu stören und doch alles im Blick zu behalten. Mein unauffälliges, lautloses Erledigen der Dinge.
Manchmal fragten sie mich, wie ich das eigentlich machte, so ganz ohne Widerspruch, so zuverlässig, so „unkompliziert“.
Ich wusste darauf keine Antwort, denn ich dachte: Es ist eben das, was man tut, wenn man es kann.
Doch irgendwann – vielleicht war es im Winter an einem Sonntagnachmittag der wieder keiner war – merkte ich, wie mein Körper zu widersprechen begann.
Erst in kleinen Gesten. Das Herz, das schneller schlug, wenn jemand eine Frage an mich hatte. Die Augen, die flackerten vor Müdigkeit, obwohl ich schlief.
Dann größer. Ich begann, mich zu verlieren. Weniger zu essen, weniger zu sprechen. Nur noch zu reagieren, nicht mehr zu gestalten.
Ich war da, ja.
Natürlich war ich da.
Aber nicht mehr ich selbst. Nur noch Teil einer maschinellen Einrichtung.
Manchmal dachte ich, mein Körper würde sich irgendwann einfach abschalten. Wie die oft so gerne benannte Maschine, die zu lange lief.
Kein großes Drama.
Kein Zusammenbruch.
Nur ein Flackern von Lämpchen, ein Stillstand, Stille.
Es gab Nächte, in denen ich im Büro saß und am nächsten Morgen nicht mehr wusste was ich erledigt hatte.
Keine Müdigkeit, keine Freude.
Nur dieses – Funktionieren.
Ich denke an meinen Kollegen. Sein Körper hat sich vor kurzem einfach abgeschaltet.
Herzversagen, sagten sie.
Ich glaube, es war sein großes Herz, das ihn getragen hat, und irgendwann einfach nicht mehr konnte. Von all dem zu viel. Und all dem zu wenig.
„Ein Ninja“, hatte er einmal gesagt. Du bist wie ein Ninja wenn du arbeitest. Wie ein Schatten. Man sieht dich nicht, immer unsichtbar. Aber du siehst alles und bist da.
Wenn es still war. Wenn jemand gebraucht wurde. Und am Ende alles funktioniert.
Wir mochten uns am Anfang nicht. Ich hielt ihn für laut, er hielt mich für seltsam und unfähig. Er lebte sein Arbeitsleben wie die Bühne die er so liebte, während ich im Hintergrund verschwand. Aber irgendetwas hatte sich verändert, über die Jahre. Vielleicht war es Respekt, vielleicht Erkennen. Vielleicht war es einfach diese stille Freundschaft, die entsteht, wenn man in der gleichen Flut steht, Schulter an Schulter. Wenn der Sturm tobt, und einer reicht dir wortlos den Kaffee.
Er war einer der wenigen, denen ich nie erklären musste, warum ich blieb, wenn alle gingen. Warum ich ging, wenn alle blieben.
Wir sprachen nicht viel darüber, aber wir wussten es beide. Dieses Gefühl, dass man gebraucht wird – nicht als Mensch, sondern als Funktion. Und dass das manchmal trotzdem reicht, um weiterzumachen.
Ich mochte diese Beschreibung.
Sie passte zu mir, und zu der Arbeit, die wir taten.
Nicht immer sichtbar, aber wesentlich.
Jetzt ist er fort, und ich sehe ihn manchmal, im Kräuseln des Wassers, im Licht der Scheinwerfer, im Schatten eines Baums.
Als wüsste er, dass ich hier sitze und schaue.

Und dann wieder stundenlang – Nichts.
Kein Elch.
Kein Geräusch.
Nur Wald.
Wind und das Wispern der Kamera. Ich höre mein eigenes Atmen. Und bemerke erst jetzt, wie laut es ist.
Wie selten ich es höre.
Ich frage mich, ob die Elche irgendwo im Schatten sitzen, sich die Ruhe mit Moos polstern und beschlossen haben, heute nicht gesehen zu werden.
Keine Gage, keine Likes, kein Auftritt.
Wissen sie überhaupt das sie eine Elchwanderung machen?
Vielleicht kennen sie die Welt, in der wir leben, und haben sich entschieden, nicht Teil davon zu sein.
Ein Rückzug aus der Sichtbarkeit.
Dann geschieht es wieder.
Ein Elch tritt aus dem Schatten. Langsam. Groß. Stolz.
Die Muskeln bewegen sich unter dem dunklen Fell. Er bleibt stehen. Die Kamera wackelt leicht im Wind.
Um ihn nur Gras.
Nichts. Und doch – alles.
Ich halte den Atem an.
Er kann mich nicht hören. Aber ich halte ihn trotzdem an.
Dieser Moment – ein Elch, der nichts tut – ist wie ein alter Zauber.
Kein Spektakel.
Kein Höhepunkt.
Aber er bleibt.
Nicht weil er besonders ist.
Sondern weil er sich entzieht. Der Welt da draußen, dem Wollen und dem Planen.
Der Logik der Unterhaltung, der Geschwindigkeit und der Erwartung.
Vielleicht ist es genau das, was ich suche.
Immer wieder. Nicht die Bewegung. Nicht das Ereignis.
Sondern das Dazwischen.
Die Stille, die nie ganz still ist.
Das Nichts, das heimlich alles enthält.
In dieser Stille, die keine Stille ist, beginnt etwas in mir zu atmen, das lange keinen Platz hatte.
Etwas, das jenseits der eingeflößten Effizienz, den Abläufen und dem Funktionieren liegt. Ein Leben, das nicht katalogisiert, nicht verwertet und nicht verwaltet werden will.
Das einfach nur sein will.
Wie die Elche.
Wie das Wasser.
Wie der Nebel, der über den Fluss zieht.
Vielleicht ist das mein Text.
Mein Körper.
Meine Müdigkeit.
Vielleicht ist das alles – genug.
Ein Raum, in dem wieder etwas anderes entstehen darf.
Und in diesem Moment reicht das.
Ich lehne mich zurück. Atme ein.
Und spüre: Ich bin noch hier.
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