
Die Nacht in Ammarnäs hatte ein Bett, aber keine Ruhe.
Zu kurz das Bett. Zu hart und zu eckig. Der Rücken bog sich in jede Richtung, nur nicht in die, die er gebraucht hätte. Und in den frühen Morgenstunden, wenn der Körper die Dunkelheit längst bemerkt hat, fingen die Beine an zu sprechen.
Erst ein leises Ziehen, dann ein Brennen. Schließlich ein Stechen, das kam und ging wie kleine Nadeln im Takt der Gedanken. Und dazwischen immer wieder dieses linke Knie. Diese Stimme darin, die nicht flüstert sondern schreit. Die sich nach der Operation eingegraben hat wie ein altes Feuer, das niemand gelöscht hat – nur zugedeckt mit der Zeit.
Es braucht nicht viel, nur eine falsche Bewegung beim Wasserschöpfen. Ein Ausrutschen am Ufer und das Feuer brüllt wütend und frisst weiter.
Der Morgen ist da, trübe und wolkenverhangen. Feiner Regen steht in der Luft und ich gehe los. Weiter nach Norden.
Nicht aus Pflicht, nicht weil mein Plan das sagt. Sondern weil etwas in mir es will. Dieses „Etwas“ ist nicht laut. Es klagt nicht und ruft nicht.
Es geht einfach.
Und ich gehe mit.



Du kennst Teil 1 der Artikelserie Hemavan – Narvik noch nicht? Dann fang am besten von vorne an.
Der Wind hat aufgefrischt und scheint sich in Richtung Sturm wandeln zu wollen. Die Welt ist ein einziger Atemzug aus Wind. Von hinten trägt er mich. Von der Seite stößt er mich. Und die, die mir entgegenkommen, senken die Köpfe. Ich sehe ihre Gesichter kaum. Nur Augen, halb verborgen hinter Mützen, Kapuzen, Tüchern und Brillen. Manchmal halten sie an, schnaufen, fragen mich: „Ist das hier die Abkürzung nach Ammarnäs?“
Ich nicke. Es ist die Abkürzung.
Der einfache Weg.
Der richtige an diesem Tag.
Der Weg glänzt. Wasser sammelt sich in Rinnen, in Senken und zeichnet neue Spuren. Meine Schuhe haben längst aufgegeben, trocken sein zu wollen. Es gibt keine Vorstellung mehr davon, wie sich trockene Socken anfühlen. Alles ist weich, kalt und feucht. Nässe ist keine Eigenschaft der Kleidung mehr. Sie ist ein Zustand.
Trotzdem. Ich ziehe sie jeden Morgen wieder an. Die klammen Sachen. Die schmutzigen. Die, die nach Moor und Nebel riechen.
Weil es dazugehört.
Weil es ein Teil von dem ist, was ich will – nicht etwas das mir aufgezwungen wurde.
Irgendwo zwischen dem Gehen und dem Nichts denke ich…
Vielleicht ist das der Unterschied. Ob du etwas tust, weil du es gewählt hast – oder weil du geglaubt hast, es zu müssen. Selbst Entbehrung fühlt sich anders an, wenn man sie selbst mitgebracht hat.
Bäverholmen, Blaubeeren & Sahne

Dann öffnet sich das Tal.
Bäverholmen.
Ein Haus. Ein Fluss. Ein Boot.
Im Sommer gibt es hier Waffeln mit Blaubeeren und Sahne. Ich kann es noch im Wind riechen.
Als hätte jemand das Fenster aufgemacht. Und für einen Moment stelle ich mir vor, wie ich da sitze. Am Tisch. Die Gabel in der Hand.
Würde ich wirklich bestellen, wenn ich könnte? Oder ist das Wollen nur ein Reflex?
Vielleicht will ich es gar nicht essen. Vielleicht will ich nur wissen, dass ich könnte. Und es dann lassen. Aus Respekt vor dem Weg.
Vor der Entbehrung, die mir ans Herz gewachsen ist wie ein vertrauter Begleiter.


Am Abend erreiche ich eine Schutzhütte. Ein Spanier öffnet die Tür in Unterhose. Er lächelt und winkt mich herein. Ich danke, lehne ab. Nicht aus Misstrauen. Sondern weil mein Zuhause aus Stoff besteht. Rot, klein, verlässlich. Ich finde einen Platz am See. Der Wind liegt flach über dem Wasser. Die Stille ist nie ganz still und sie nimmt mich mit hinein.
Tag des Runderns & DER Regen
Der Tag des Ruderns ist da. Was hat mein Kopf im Vorfeld für Spektakel gemacht. Fragen gestellt, Sorgen vorbereitet.
Alles unnötig. Auf meiner Seite des Ufers liegen drei Boote. Auf der anderen nur eines. Ich muss nur einmal rudern.
Es funktioniert.
Es macht sogar Freude.
Am nächsten Tag kommt DER Regen.
So viel Regen, dass man denkt, er fällt nicht nur von oben. Sondern auch von den Seiten. Von unten. Von innen. Irgendwann fühlt es sich an, als käme er sogar aus der eigenen Jacke. Die Haut ist keine Grenze mehr.
Ich hadere mit ewig und immer nassen Füßen und klammer Kleidung vor Sonnenaufgang.
Zur gleichen Zeit reißt das viele Wasser anderswo die Gleise der Eisenbahn aus dem Boden und nimmt ganz Straßen mit sich.
Es ist derselbe Regen. Nur an anderen Orten. Und mit ganz anderen Folgen.
Und ich gehe. Weil man eben geht.
Riebnes
Riebnes ist der Name des großen Sees den es zu queren gilt. Und der See macht eine Pause im Regen. Nur kurz.
Das Motorboot kommt. Ich fahre mit. Einen anderen Weg als über den See gibt es nicht.
Wir gleiten über das Wasser wie durch eine andere Welt. Die Siedlung Vuonatjviken auf der anderen Seite ist klein.
Abgeschnitten.
Nur erreichbar per Boot, Hubschrauber oder Wasserflugzeug. Ich überlege, ob ich zelte. Denn heute möchte ich nicht mehr weitergehen.
Und mein Kopf spricht schon wieder. Von Schwäche. Von Müdigkeit. Von Leistung und weitermachen.
Ich höre ihm zu, das mache ich immer. Er hat aber nicht mehr das letzte Wort.
Ich nehme eine Hütte. Vielleicht ist der Kopf noch erschöpfter als der Körper. Würde es aber nie zugeben.



Es regnet weiter den ganzen Tag. Ich sitze lange am Fenster und schaue auf den See.
Bin unendlich müde. Kann nicht schlafen.
Am nächsten Morgen packe ich alles so wie immer in den letzten Tagen und gehe zusammen mit der Sonne meinen Weg.
Endlich Sonne. Licht. Landschaft. Der Himmel reißt auf, als hätte jemand einen Faden gezogen. Ich sehe die Farben wieder.
Ein stilles Lächeln.
Meine Erschöpfung aber bleibt. Sie hat sich eingenistet. Ich spüre sie in den Oberschenkeln, im unteren Rücken, in der Stimme, wenn ich spreche. Es hat vielleicht mit der Verpflegung zu tun. Oder mit dem, was ich losgelassen habe und was ich dabei noch nicht ganz verstanden habe.
Aber da war noch etwas. Denn auch was in mir schwer war, blieb.
Ich kam nicht mehr in einen Rhythmus. Nicht ins Gehen, nicht ins Fühlen, nicht ins Denken.
Meine Erschöpfung lag nicht nur in den Beinen – sie war tiefer.
Ein seltsames Gewicht, das sich nicht erklären ließ.
Kein Schmerz, keine Angst. Nur dieses Leise – Ich kann nicht mehr.
Oder nur gerade so.
Trotzdem wache ich jeden Morgen um fünf Uhr auf. Ohne Wecker und ohne Mühe. Ein für mich rätselhafter Zustand. Tief erschöpft und hellwach.
Bereit.
Ich wünschte, ich könnte diesen Zauber mit nach Hause nehmen. Diesen ersten Moment des Tages, wenn der Nebel noch alles verdeckt. Und ich höre, was ich nicht sehe. Rentiere. Ihr Schnauben im Verborgenen.
Eine andere Welt, ganz nah.
Die Berge von Narvik – sie waren noch so weit entfernt, dass der Gedanke an sie manchmal wie ein Scherz wirkte.
Und doch spürte ich jeden Morgen diese Kraft, die sich regte, wenn ich den Rucksack hob.
Nicht viel. Nicht leicht.
Aber genug, um loszugehen.
Immer wieder, bis ich sagte: Für heute reicht es.
Ich wollte nicht mehr werden.
Ich wollte nicht mehr leisten.
Ich wollte nur noch spüren, wie ich gehe – und dass der Weg weitergeht.
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