
Prolog
Ich stand wieder an diesem Ort, in Kvikkjokk, und alles war gleich.
Und alles war anders.
Vielleicht war das die eigentliche Reise.
Nicht die Strecke.
Nicht der Anfang und das Ende.
Sondern der Moment, in dem sich die Erinnerung in die Gegenwart legt –
und man das Echo seines eigenen Staunens hört.
Dies ist der dritte Teil der Reihe von Hemavan nach Narvik.
Teil 1 der Wanderung von Hemavan nach Narvik findest du HIER.
Teil 2 HIER.
Kvikkjokk
Die Nächte in Kvikkjokk legten sich knapp über mich, zu kurz in jeder Richtung. Die Knie meldeten sich in hellen Stichen, die Waden spannten, als hielten sie etwas fest, das längst weg sein wollte.
Schlaf kam in dünnen Schüben. Einmal stand ich am Fenster, roch den wilden Fluss vor dem Fenster und feuchte Erde. Hörte das langsame Tropfen vom Dach. Der Morgen lag schon in der Luft, ehe er begann.
Fast zwei ganze Pausentage waren versprochen, doch Ruhe lässt sich nicht herbeiwünschen. Ich sortierte die Ausrüstung wie Memorykarten auf einem Tisch.
Kocher, Löffel, Batterien für alle Geräte, Verbandszeug, Socken (kann man Socken überhaupt sortieren, wenn man ein paar trägt und dann nur noch eines auf dem Tisch liegt?), den ganzen Proviant für zwei Wochen und ein paar Tage.
Hebend, prüfend, neu verteilt. Ich musste alles noch einmal sehen. Alles berühren und in der Hand halten. Um zu fühlen das ich alles werde tragen können. Weil es nun soweit war das zu tun.
Der Rucksack blieb ein Gewicht mit Meinung. Ich ging die Strecke im Kopf ab, tastete mir Wege mit den Händen. Irgendwie so, wie man die Kante eines Schüssels entlangfährt, bis man alle Zacken verstanden hat.
Am Ende des ersten Pausentages wurde das Denken schwerer als das Gepäck. Gegen Abend des zweiten Tages war klar, am nächsten Morgen werde ich zusammen mit der Sonne über das Wasser hinüberfahren.
Dann wird der Weg entscheiden.



Bootfahren – Padjelantaleden – Nordkalottleden
Das Boot setzte sich früh in Bewegung. Der Motor brummte unter den Brettern, die Kapitänin war guter Laune. Das Seil löste sich, und die Oberfläche des Flusses brach in kleinen Federn auseinander. Sie zeigte kurz auf die Mitte des Flußes, dort wo sich zwei Arme trafen. Ich sah deutlich den Unterschied in der Wasserhöhe. Der eine Arm brachte all das Regenwasser der letzten Tage aus den Bergen. Der andere Arm führte wie immer.
Ein Zentimeterhoher Unterschied Wasserhöhe mitten im Fluss.
Fachleute nennen das wohl „hydraulischer Sprung“. Trifft schneller, „dünner“ fließendes Wasser auf langsameres, „dickeres“ Wasser, kann die Strömung schlagartig von schnell und flach zu langsam und tiefer wechseln. Die Wasseroberfläche macht dann eine gut sichtbare Kante oder Welle. Der „Ort“ an dem das passiert ist der Bereich der Konfluenz.
Ufer zogen vorbei wie Seiten, die umgeschlagen werden. Ein stiller Gruß hier, ein Nebelfetzen dort, schräg ein Steg, auf dem niemand stand. Bis ich anlandete.
Der Padjelantaleden begann mit freundlicher Hand. Erst Bohlen über feuchte Wiesen, fester Boden, breite Kurven. In mir rührte sich die Erinnerung an jenen Sommer, als dieser Ort ein Ziel gewesen war. Damals 2020 endete ich hier. Am Ende des Nordkalottleden. Heute fängt es hier wieder an. Manchmal öffnet dieselbe Tür in eine andere Richtung.


Dann kam der Abzweig. Vom Padjelantaleden auf den Nordkalottleden. Das Gelände stellte den Ton um, ohne lauter zu werden. Wasser war überall. Rinnsale fanden sich, wuchsen zu Bächen, breiteten sich an flachen Stellen zu matten Spiegeln. Die Erde gab nach, als atmete sie unter jedem Schritt. Trittsteine lagen da wie zugesprochene Hilfen, um sich dann als wackelndes Nichts herauszustellen. Holzstege verloren sich mitten im Nassen und dazwischen suchte ich die Linie, die mich nach Norden führen sollte.
Ich ging, setzte ruhig, hob ruhig. Eine Konzentration, die nicht zerrte oder verlangte. Als die Sonne tief wurde, stand sie plötzlich da. Die kleine, dunkle, alte STF Hütte. Gebaut 1890. Die Tarraälvshyddan.
Mit dicken Balken und einer Tür, die schwer in der Hand liegt. Drinnen eine Bank, ein Regalbrett und eine Feuerstelle die roch, als hätte sie schon viele Abende bewahrt. Ich legte mich ab. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war erledigt in wunderbarer Vollkommenheit. Die Müdigkeit lief aus mir wie Wasser aus einem Fell. Draußen legte sich das Tal in dieses eigensinnige Licht, das noch hält und doch geht. Der Schlaf kam, schlicht und gut.
Am Morgen zog der Weg an. Gleichmäßig und geduldig, als erkläre er den Tag noch einmal von vorn. Stetig bergan. Ich suchte mir in der Ferne Pausenplätze, an denen ich für Sekunden halten wollte. Für mehr Luft in der Lunge, für einen Blick zurück in dieses wunderbare Tal.
Hier ein heller Stein, dort eine Kerbe im Hang. Manchmal ein Fleck im Moos. Eine Minute und weiter. Man kann in so einem Rhythmus denken und es hilft, um sich nicht zu verlieren. Mitten im Aufstieg drängte Nebel von der Seite her, dichte, kühle Fetzen, die die Konturen weich machten. Der Blick blieb kurz, die Schritte wurden nah, der Atem hörbar. Dann riss es auf, das Blau stand klar, und der Herbst zeigte seine Farben. Gelbe Birken, rötliche Matten, das matte Grün der Wacholder. In der Ferne lag Wasser und trug das Licht, als sei es dafür gemacht.






Mann mit Fahrrad
Der Platz, den ich mir tags zuvor zum Zelten gemerkt hatte, tauchte auf und fiel gleich wieder aus. Zu schräg, zu nass, zu offen. Ich ging weiter, fand einen kleinen Platz am See. Es lagen bereits Steine in einem Kreis, als wenn sie schon einmal einem Zelt Sicherheit bei Wind gegeben haben.
Genug flaches Gras für zwei Heringe mehr. Zelt, Leinen, Handgriffe. Wasser holen. Den Kocher windstill stellen. Die Ordnung der Regenkleidung so, dass sie im Griff ist, wenn die Wolken doch schneller werden. Als ich mich hinsetzte, trug der Körper noch die Wärme des Weges.
Auf dem Pfad in der Ferne kam ein Mann und schob ein Fahrrad in die Richtung aus der ich kam. Ich blinzelte.
Hier?
Es sah aus als schaute er zu mir. Schob weiter dem Geröll entgegen, das hier wie ein festes Versprechen auf der Karte steht. Aufwärts steil, abwärts steiler.
Vielleicht trug ihn ein Plan, so wie ich einen hatte. Wäre er sonst auf die Idee gekommen das zu tun? Es gab dort nur Geröll wo ich herkam. 20 vileiiecht 30 Kilometer bis zur nächsten Hütte. Keinen anderen Weg…
Ich wünschte ihm im Stillen Kraft in den Handgelenken und sicheres Gleichgewicht. Dann wurde es wieder ruhig.
Am nächsten Tag bog der Pfad nach Westen, Norwegen zu. Der See lag neben mir, groß und klar, in kalten Farben – türkis, kornblau, dazwischen Streifen, die aussahen, als hielte der Wind sie fest. Der Weg schmal, gerade genug für ein achtsames Paar Schuhe. Links der Hang, rechts das Wasser, zwischen allem schmale Grasbänder und Blumen. Spätsommerreste.
Eine Strecke, die ich niemals vergessen werde. Kaum auszudenken bevor man dort ist. Farben die jede Sekunde wechselten. Weil die Sonne anders stand, der See anders zurückschaute. Der Wind die Blumen in ein anderes Licht setzte.
Ich ging und sammelte alles auf. Hier zeigte sich das Unterwegssein von einer Art, die still macht. Es braucht nichts mehr als genau diese Stunde.




Start hier, Ziel dort?
Früher glaubte ich, Reisen seien Abschnitte, die man zwischen zwei Klammern legt. Start hier, Ziel dort, dazwischen eine Geschichte. Inzwischen fühlt es sich anders an. Draußen sein ist ein Zuhause geworden und die Zeit dazwischen nur eine Vorbereitung auf das nächste Aufbrechen. Das klingt groß, ist aber schlicht. Ein Rucksack in Griffweite, ein Körper, der Schrittfolgen kennt, ein Blick, der morgens schneller wach wird, wenn er Bäume sieht.
Der Schmerz gehört dazu. Er zieht von Knie zu Knie, stößt mal im Fuß an, wird leiser, wird wieder deutlicher. Ein Gast, der Wege mitgeht. Ich lerne, ihm einen Platz zu geben, der nicht die ganze Bank einnimmt.
Anstrengung und Freude können in derselben Stunde wohnen. Müdigkeit zeigt Grenzen und Dankbarkeit flüstert mit. Staunen stellt sich hin und ist. Ein guter Tag hat oft mehrere Wahrheiten und sie stören einander nicht.
Die alte Frage liegt dennoch bereit, wenn das Gehen länger wird.
Was will ich wirklich.
Nicht als Prüfung, als festes Ziel ohne ein danach. Eher als Faden, der sich immer wieder zwischen die Finger legt. Die Antwort ist nicht neu. Sie zeigt sich in kleinen Dingen.
Frühe kalte Luft im Gesicht.
Brot mit kalter Butter.
Die Hand im Bach, das offene Gelände, eine Tür, die sich abends schließen lässt.
Kerzenlicht.
Ein Gedanke an Strom den es nicht gibt.
Holz hacken und Kartoffelpüree.
Man könnte darin ein ganzes Jahr finden.



Norwegen ist nah
Das Wetter schlug um wie eine Seite, die schneller gewendet wird, als man lesen kann. Der Wind nahm zu, Wolken kamen dicht, der Regen zog in schrägen Strichen vorbei. Die Grenze nach Norwegen war nah und mit ihr die Hütte. Ein Schlüssel, eine Klinke, Holz, das schwer arbeitet. Drinnen roch es nach heilem Raum. Trockenes Zuhause für eine Nacht. Asche im Ofen, alte Wollreste an der Bank. Im Regal eine Tüte Haferflocken. Verschenkt an Unbekannt. Von einem Wanderer der sie nicht mehr brauchte. Aber wusste wieviel sie einem anderen bedeuten kann.
Ich kochte Porridge, langsam, und streute meinen restlichen Zucker darüber. Ein so einfacher Teller kann satt machen bis in die Hände. Die Wärme blieb im Bauch, der Rücken sank ein, alles in mir wurde ruhiger.
Niemand kam an diesem Abend. Das Haus stand still, der Regen lief über die Scheibe, kleine Wege bauten sich auf und brachen wieder ein. Ich legte Holz nach. Das Knistern machte die Stunden weich.
Morgen wird entschieden, sagte ich mir, und damit ist nur gemeint – Ich gehe los, sehe, was kommt und passe das Tempo an. Die Knie nehmen, was sie bekommen. Die Füße wissen mehr, als die Gedanken hinter der Stirn oft zulassen.
Später lag ich auf der Bank, die Decke bis zur Brust, die Stirn an das kühle Holz gelehnt. Draußen ein tiefer Laut, vielleicht ein Vogel, vielleicht nur der Wind, der sich im Dach verfängt. Bilder schoben sich her. Der Mann mit dem Fahrrad. Diese alte Hütte mit der schweren Tür. Die alten Bohlen über all der Nässe. Ein Tag, der anfängt, indem man die Tasse mit beiden Händen hält. Ich merkte, wie dieses Land leise arbeitet. Es mischt Wasser und Stein, Licht und Wetter, lässt Erdiges und Feines nebeneinanderstehen, ohne eine Entscheidung zu verlangen.
Und ich darf mich dazustellen.
Schritt für Schritt, so lange es geht.



zu viel Vielleicht
Am Morgen wache ich auf mit Gedanken.
Wird es heute vielleicht grauer sein als gesten? Der Pfad kann rutschig werden, die Böschung kann die Schritte wegziehen. Das Gepäck fragt dann nach mehr Körper. Möglich auch, dass zwischen zwei Wolken ein blauer Streifen liegt, klein wie eine Schnuppe und dass dieser Streifen reicht, um die Jacke offen zu lassen, bis die nächste Hochebene sich wieder zeigt.
Vielleicht finde ich Preiselbeeren in einer Senke, vielleicht reißt der Wind an der Kapuze, bis ich Ohrstöpsel brauche weil es zu laut ist.
Vielleicht wird das Knie stiller sein, weil die Wärme bleibt. Es gibt viele vielleichts, und doch nur eine Richtung – vorwärts, so wie es an diesem Tag eben geht.
Ich trete hinaus und spüre den Atem der Luft, noch kalt, mit einem leichten Metall darin. Vom Dachrand fallen Tropfen, in ruhigem Abstand, als zählten sie für jemanden mit. Ich lege die Hand unter eine Kante, warte, schmecke Wasser, das nach Fels und Schnee erinnert. Ich ziehe die Schuhe fest, die Riemen des Rucksacks, prüfe, wie die Hüfte das Gewicht annimmt. Es ist nicht leicht und doch ist es genau das, was heute zu mir gehört.
Manchmal ist Hoffnung nichts Großes. Sie ist ein Schritt, der gelingt, obwohl der vorherige schwer war. Sie ist das Wissen, wo die trockene Stelle im Gras liegt. Sie ist die kleine Pause am Stein, der in der Ferne leuchtet. Sie ist das Lachen, das hochkommt, wenn eine Wolke aufreißt, ohne Ankündigung. Und sie ist der Satz, den man abends in die Stille denkt.
Ich war draußen. Ich bin angekommen.
Morgen trage ich weiter.
Der Weg wird den Takt vorgeben. Ich bringe die Zeit mit.
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