
Am nächsten Morgen war ich langsam. Die Nacht hatte nicht gereicht, um den Tag wegzuschieben.
Die Beine waren schwer, die Schultern müde. Das linke Knie steifer als am Abend. Ich bewegte es vorsichtig, tastete mich an die Grenze.
Es war möglich, aber nicht elegant. Die Vorstellung, dass der Tag eine Flussquerung bereithielt, war in meinem Kopf wie ein Fels
der noch auf mich wartete.
Ich packte in kleinen Etappen. Ich trank lauwarmes Wasser, aß nichts damit ich später mehr essen konnte.
Die Luft war kühl, vielleicht sechs Grad, aber trocken. Über den Gipfeln lag eine dünne Schicht Wolken, doch zwischen ihnen blinkte immer wieder ein Stück
blauer Himmel hervor. Es war kein strahlender Tag, aber einer, der still sagte, dass er in Ordnung war.
Es sollte eine Sommerbrücke geben. Auf der Karte war sie eingezeichnet. Doch als ich näherkam war da ein leeres Ufer
und ein Fluss, der sich in viele Arme teilte. Ich stand am Ufer und rechnete. Der Umweg, den ich machen müsste, um vielleicht an einer anderen
Stelle die Brücke zu finden, wäre lang. Die Zeit, die ich damit verbrauchte, kostbar. Es regnete nicht. Es war nicht eisig kalt. Der Fluss war breit, aber nicht tief wie ein See.
Ich hatte meine kleinen Gummiwatschuhe dabei, die dünnen Dinger, die fast aussehen wie Spielzeug und doch die Füße vor den scharfen Steinen
im Flussbett schützen.
So gedacht. So gemacht.
Ich zog die Schuhe und Socken aus, packte sie oben auf den Rucksack. Schnallte mir alles fest. Dann stieg ich hinunter zum ersten Arm des Flusses.
Das Wasser griff nach meinen Knöcheln, kalt und klar. Ein kurzer Stich in der Haut, dann das vertraute Taubwerden. Die Steine unter den Fußsohlen waren spitz, manchmal glitschig. Jeder Schritt ein kleiner Versuch, nicht wegzurutschen. Ich setzte die Stöcke bewusst, tastete die Tiefe ab, ging langsam, fast so,
als würde ich mich an jemanden heranarbeiten, den ich noch nicht kenne.
In der Mitte der Arme, dort, wo das Wasser bis knapp über die Knie reichte, blieb ich kurz stehen. Atmete. Schaute in die Weite.
Die Strömung rieb an mir, nicht stark genug, um gefährlich zu sein, aber deutlich genug, um mich zu erinnern, wie klein ich hier war.
Jeder weitere Schritt brachte mich näher an das andere Ufer und gleichzeitig tiefer in diese merkwürdige Mischung aus Schmerz und Lebendigkeit.
An den meisten Tagen gehörten Frieren, Hunger und Schmerz einfach dazu. Sie waren wie zusätzliche Mitwandernde, die ich nicht eingeladen hatte
und die doch immer wieder auftauchten. Der steife Muskel am Morgen. Der Magen, der eine Stunde vor dem Lager knurrte.
Die Hände, die beim Zähneputzen im Wind zitterten. Es war selten, dass alle drei gleichzeitig Pause hatten.
Wenn doch, war es wie eine kleine Wiedergeburt.


Nicht das große Heldendrama von dem die Abenteuerbücher erzählen. Kein knappes Entkommen vor einem Sturm, keine Rettung in letzter Minute.
Sondern das stille Aufwachen an einem Morgen, an dem nichts weh tat. Oder ein Nachmittag, an dem die Kälte ausnahmsweise draußen blieb und der Magen zufrieden war. Der Körper sprach dann in einem anderen Ton. Und ich merkte, wie sich eine tiefe Dankbarkeit ausbreitete, fast beschämt, weil sie so groß war für etwas so Kleines.
Auf der anderen Seite des Flusses zog ich die Gummischuhe aus. Die Haut war rot, doch die Füße fühlten sich lebendig an. Ich trocknete sie grob, zog Wollsocken an, schlüpfte zurück in die Wanderschuhe.
Der Weg führte an diesem Tag an einer kleinen Hütte vorbei. Ein STF-Häuschen am Rand zum Padjelanta-Nationalpark.
Eine Hütte, die fast so aussah, als hätte sie sich selbst dahingestellt. Holz, rot gestrichen, weiße Fensterrahmen, ein Dach,
das schon einige Winter getragen hatte.
Dahinter die Hügel, ein See und ein wilder Fluss.

Ich blieb stehen und schaute sie lange an. Hier zu wohnen wäre denkbar, dachte ich. Ein ganzes Jahr lang. Mit den Jahreszeiten kommen und gehen.
Die ersten Mücken im Juni, der erste Frost im August. Die Stille ab Oktober, wenn niemand mehr hierherkommt.
Nur in der Hauptsaison wäre es vielleicht ein Problem für mich. Wenn jeden Tag neue Rucksäcke vor der Tür stünden und Stimmen über den See trügen…
Ich stellte mir vor, wie das Holz in den Nächten knackt, wenn die Temperatur fällt. Wie die Tür in den ersten Tagen im Frühjahr schwer aufgeht,
weil der Schnee sie festgehalten hat.
Der Tag war kurz. Mein Ziel war die Staddajåkkå Hütte. Einen halben Pausentag hatte ich mir vorgenommen. Ein Wiedersehen mit dieser Hütte nach Jahren.
Als ich sie schließlich erblickte, war da kurz dieses Gefühl, als würde die Zeit eine Schleife schlagen. Dieselben Konturen.
Dasselbe Tal. Dieselbe Hütte, die da stand inmitten der Landschaft. 2020 hatte ich hier gesessen,
hungrig und erschöpft, und in einem der Schränke eine Tüte Haferflocken gefunden.
Ein kleines Festmahl im Nirgendwo.
Jetzt war ich wieder da. Der Rucksack und die Hütte waren dieselben.
Ich war ein anderer.
Kaum war ich drinnen, begann der Kopf zu rattern. Der Tag war zu kurz gewesen. Die innere Stimme, die immer zählt, fing an, Fragen zu stellen.
Musst du nicht eigentlich weiter. Ist das genug? Einfach nur hier sitzen und nichts tun.
Darfst du das?
Ich atmete bewusst langsamer. Entzündete die Flamme am Gasherd und erhitzte Wasser. Füllte es in meinen Wassersack, schraubte die Öffnung zu,
trug ihn hinaus und hängte ihn an einen Haken an der Wand. Die Idee einer Dusche unter freiem Himmel hatte mich schon den halben Tag begleitet.
Mit Blick in die Berge, lauwarmes Wasser, das über eine vom Wind und Salz verkrustete Haut läuft. Ein kleiner Luxus, selbst organisiert.
In diesem Moment ging die Tür auf.
Ein Mann trat ein. Schlank, etwas verfroren wirkend und mit dem leicht abwesenden Blick. So wie von Menschen, die schon einige Tage
mit sich selbst unterwegs sind. Er stellte seinen Rucksack ab, lächelte. Wir stellten uns vor. Er hieß Nikita, kam irgendwo aus der Gegen um Düsseldorf.
Er wollte hier nur Mittagspause machen.
Ich sagte, dass ich gleich draußen duschen müsse, bevor das Wasser kalt würde. Ob er noch bleiben würde, damit wir danach reden könnten.
Er nickte. Es war längst selbstverständlich geworden, sich auf die paar Sätze mit Menschen zu freuen, die zufällig denselben Punkt auf der Karte berühren.
Draußen, unter dem Wassersack, stand ich in meinen nackten Füßen auf dem Bretterboden. Der Wind strich mir über den nassen Rücken,
das Wasser war gerade warm genug, um zu trösten. Über dem Dach zogen die Wolken langsam nach Westen.
Mein Körper fröstelte und entspannte sich gleichzeitig. Ein wenig Seife, dann nur noch klares Wasser, das den Staub der letzten Tage mitnahm.
Das Knie, inzwischen erzählbereit, antwortete mit einem dumpfen Pochen, aber es war ein Pochen, das Leben sagte, nicht Stopp.
Als ich wieder in die Hütte trat, eingewickelt in alles, was ich an trockener Kleidung hatte, saß Nikita am Tisch und trank Tee.
Wir sprachen. Woher. Wohin. Wie lange schon unterwegs.
Wie sich der Weg anfühlt, wenn man ein paar Tage keinen Pfad mehr hatte, nur Landschaft.
Nikita hatte ein paar Tage in Norwegen abseits markierter Wege verbracht. Er erzählte von Rentieren, die ihm begegnet waren,
anders als die, die die Touristenpfade kennen. Scheuer, wachsamer. Manche hatten Jungtiere, und er hatte sich kleiner gemacht, langsamer,
um ihnen nicht zu nahe zu kommen. Trotzdem, sagte er, hatten einige ihn mit einem Blick gemustert, in dem wenig Begeisterung lag.
Eher etwas wie Missfallen, vielleicht sogar eine Spur Angriffslust.
Als hätten sie gesagt, dass dies hier wirklich ihr Land sei und nicht der Hintergrund für unsere Geschichten.
Zum Abschied kramte er in seinem Rucksack und holte ein Trekkinggericht heraus. Eine dieser Beutelmahlzeiten, die man mit Wasser aufgießt und dann auslöffelt, als wäre es ein Weihnachtsfetmahl. Er reichte es mir. Er sei schneller unterwegs, meinte er, bräuchte die zusätzliche Portion nicht mehr.
Und außerdem wisse er von meinem Hunger, fügte er mit einem Grinsen hinzu.
Ich nahm das Geschnek in die Hand und spürte… Es war nur ein Beutel Essen. Und doch war es eine ganze Welt. Ein Abend, an dem ich satt sein würde.
Ein Abend ohne Rechnen, wie weit die Vorräte noch reichen. 2020 hatte ich hier Haferflocken gefunden, die mein Festmahl geworden waren.
Jetzt wurde ich wieder beschenkt.
Der Ort blieb seiner Rolle treu.
Falls du das liest, Nikita, irgendwo hinter irgendeiner Bergkette oder an deinem Schreibtisch, DANKE. Ich habe dieses Essen gefeiert,
als wäre es ein Geschenk von jemandem, der mich viel besser kennt.


Als die Hütte am Abend zur Ruhe kam, saß ich noch einmal draußen. Der Wassersack war leer, die Sonne streifte nur noch die höchsten Gipfel.
Morgen würde Padjelanta für mich beginnen. Drei oder vier Tage im Land der weiten Täler, der weichen Pfade, der langen Holzstege über feuchte Wiesen.
Ich dachte darüber nach, warum ich das alles machte.
Das Frieren am Morgen, wenn ich aus dem Schlafsack kroch. Der Hunger, der sich am späten Nachmittag meldete und manchmal bis in den Kopf kletterte.
Der Schmerz in Knien und Schultern, der jeden Tag ein wenig anders klang und doch treu blieb. Und dass ich jeden Morgen erneut den Rucksack schulterte,
obwohl ich all das kannte.
Vielleicht war es genau die Schwierigkeit, die die Tage zum Glühen brachte. Die Reibung, die zwischen Wunsch und Wirklichkeit entsteht.
Zwischen dem, was ich mir vorgestellt hatte, und dem, was das Wetter daraus machte. Zwischen dem, was leicht wäre, und dem, was ich wählte.
Denn ich hatte das hier gewählt.
Niemand hatte mich gezwungen, durch kalte Flüsse zu waten, steinharten Schnee hinunterzurutschen oder an grauen Abenden auf leeren Hüttenbänken zu sitzen.
Auf dieser Wahl ruhte alles. Sie war das Fundament, auf dem die Anziehung wuchs. Die Begeisterung.
Die Momente, in denen die Welt weit und klar wurde, obwohl mein Körper müde war.
Wenn an einem Tag das Frieren aussetzte, oder der Hunger sich zurückhielt, oder der Schmerz sich leiser stellte, war es, als hätte jemand eine Tür geöffnet.
Ich erlebte es wie ein Geschenk, das ich nicht bestellt hatte. Vielleicht brauche ich genau diesen Kontrast, um mich lebendig zu fühlen.
Nicht als Feuerwehrmann im eigenen Leben, der ständig Katastrophen löscht. Eher als jemand, der sich bewusst in den Regen stellt
und dann den ersten Sonnenstrahl nicht vergisst.
Die Berge vor der Hütte lagen im letzten Licht. Der Wind fuhr kurz durch das Tal und prüfte ob alles an seinem Platz war.
Ich zog die Jacke etwas enger und lehnte den Rücken an die Holzwand. Morgen würde es weitergehen.
Mit müden Beinen und einem beschenkten Bauch.
Mit einem Kopf, der wieder überlegt, ob er die Kamera einschaltet oder nicht.
Vielleicht würde der nächste Tag leicht sein.
Vielleicht schwer.
Vielleicht beides.
Sicher wusste ich nur, dass ich wieder losgehen würde.
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