
Ich bin in Norwegen. Würde ich es nicht wissen, ich würde es nicht merken. Kein Grenzzaun, kein Schild. Nur ein anderer Tag im gleichen Grau.
Die Luft roch aber noch genauso nach Stein und altem Schnee wie gestern. Das Wasser in den Bächen war noch genauso kalt, die Wolken noch genauso zerrissen. Vielleicht verändern Grenzen vor allem die Linien in unseren Köpfen.
Die Hügel kümmert das nicht.


Die ersten Stunden schenkt mir der Grenzübertritt einen Wirtschaftsweg. Breiter festgefahrener Boden, kaum Steine. Ich muss nicht jeden Schritt kontrollieren. Meine Füße laufen, mein Blick darf endlich etwas anderes tun, als nach Halt zu suchen.
Ich schaute viel mehr in den Himmel als auf den Boden. Sah, wie die Wolken über den Bergen hingen, wie sie in den Kerben festklebten und an anderen Stellen wie Fahnen davonflogen.
Über einzelne Birken, die sich schon halb in den Herbst geworfen haben und so wirken, als fielen sie gleich in den Schlaf.
Es ist eine andere Art von Anstrengung, die mir fast wie Urlaub vorkommt. Der Körper arbeitet, aber der Kopf darf loslassen. Keine Blockfelder, keine Moorlöcher, keine endlose Suche nach dem nächsten roten Kreuz oder Punkt auf einem Stein. Ich gehe in einem Tempo, das ich mir sonst verbiete, schaue umher, summe leise vor mich hin.
Dann biegt die Straße ab, wird schmaler, verliert ihren Kies. Nur noch ein Pfad, wieder Erde, Wurzeln und Steine. Die Berge rücken dichter heran. Ich gehe in sie hinein, wie in ein Gespräch, von dem ich glaubte, dass wir längst alles geklärt hätten. Doch genau in dem Moment beginnt es erst.


Das erste Schneefeld liegt quer über dem Hang wie eine vergessene Decke. Hart, grau an den Rändern, ohne Spuren. Links Blockschutt und steile Felsen, rechts die gleiche Aussicht verschwindend im Nebel. Ich sehe keine sinnvolle Möglichkeit, drum herumzukommen. Also trete ich einen Schritt näher.
Der Schnee gibt nicht nach. Eis unter ein paar Zentimetern Kruste. Ich hacke mit der Schuhspitze kleine Kerben hinein, versuche es bergab. Doch jeder Schritt fühlt sich nach „gleich rutschst du“ an. Ein falscher Tritt und ich bin nicht mehr unterwegs, sondern unterwegs nach unten. Ohne Kontrolle.
Ganz plötzlich stelle ich fest, dass ich genau davor am meisten Angst habe – nicht vor dem Fallen, sondern vor der Geschwindigkeit dazwischen.
Ich setze mich hin. Meine erste Idee ist, auf dem Hosenboden zu rutschen. Kontrolliert. Immer bereit zu bremsen, immer bereit aufzustehen. So ein bisschen wie früher auf dem Spielplatz, nur eben ohne Spielplatz und ohne weichen Sand.
Die ersten Meter sind harmlos. Ich bewege mich langsam, stemme die Fersen in den Schnee. Dann schiebt der Rucksack nach. Ein leises, aber bestimmtes Drücken. Ich werde schneller, schneller als mein Kopf folgen kann. Der Hang zieht mich, als hätte er vergessen, dass ich noch darüber nachdenken wollte, ob das klug ist.
Unten am Ende des Schneefelds warten Steine. Das wusste ich vorher. Ich hatte es nur langsamer und für später eingeplant. Später ist jetzt.
Ich ziehe das linke Bein zur Seite, stemme es in den Schnee, versuche zu bremsen. Funktioniert nicht. Ein Felsblock kommt näher. An ihm bremse ich mit meinem linken Bein um zur rechten Seite umzuschlagen.
Das Knie schreit auf. Ein kurzer, heller Schmerz, so klar, dass der Rest der Welt für einen Moment verschwindet. Der dunkle Felsblock, liegt unbeeindruckt da, als hätte er das alles schon tausendmal gesehen.
Es ist still. Nur mein Atem stolpert. Ich taste das Knie ab. Es bewegt sich. Kein Knacken, kein seltsamer Winkel, nur Schmerz. Roh, aber vertraut. Nichts ist kaputt. Zumindest nichts, das ich greifen kann. Erschrocken und erleichtert sitze ich da, am Ende von diesem Schneefeld, und schaue zurück nach oben, die Spur meiner eigenen Dummheit hinauf.
War das dumm? Ja. Ziemlich.
Im Nachhinein ist fast alles dumm, was schiefgehen könnte und dann knapp gut ausgeht. Und trotzdem spüre ich genau in diesem Moment etwas anderes zwischen den Resten des Adrenalins. Es ist ein leiser, widerständiger Gedanke, der mich unverschämt fragt, ob ich es wieder tun würde.
Ich glaube, ja. Aber anders.
Ohne Rucksack rutschen. Ihn am Seil vorher runterlassen, so dass er mich nicht schiebt. Mir mehr Zeit lassen, den Hang zu lesen. Vielleicht eine Unterlage suchen, die bremst, statt beschleunigt. Handschuhe anziehen damit die Eiskristalle nicht die Hände zerschneiden.
Und wenn nichts davon sich gut anfühlt, den Umweg in Kauf nehmen, eine Stunde mehr durch Steine und nassen Schnee. Das ist es, was ich lerne.
Mut ist nicht das Gegenteil von Vorsicht. Mut ist oft nur die Geduld, eine weniger dumme Variante zu wählen.
Ich stehe auf, fühle ob das Bein etwas meldet. Es trägt mich. Zögerlich, aber es trägt. Der Rucksack knarzt leise, der Wind fährt mir in den Nacken. Ich schaue noch einmal hinauf – und dann sehe ich in meinen Gedanken, wie meine Gopro anfängt den Film abzuspielen, den sie nie aufgenommen hat.
Sie war an. Bis kurz vor der Abfahrt. Dann ist sie ausgegangen, ohne Grund, bei siebzig Prozent Akku. Der Track hört auf, bevor es spannend wird.
Kein viraler Clip, keine dramatische Musik im Hintergrund, kein „ACHTUNG Lebensgefahr – Ich und der Berg- UNBEDINGT ANSCHAUEN“ in Zeitlupe.
Nur ich und mein Knie und ein Schneeabhang, der sich nicht darum schert, ob jemand zuschaut.
Etwas in mir findet das fast tröstlich. Die wirklich knappen Momente bleiben manchmal nur da, wo sie passiert sind. In der Stille zwischen mir und dem Hang. Im Körper, der sich erinnert, wenn er wieder auf glattem Untergrund steht. In der Art, wie ich morgen vielleicht ein Schneefeld anschaue, bevor ich entscheide.
Etwas anderes in mir verflucht jedoch die Kamera. Es wäre wirklich mal wichtig gewesen, so eine Art von Clip zu haben. Um die Algorithmen des Internets hinter meiner Stille hervorzulocken.


Der Weg hinunter ins Tal wird nicht leichter. Im Gegenteil. Weitere Schneefelder kleben an den Hängen wie halb vergessene Gedanken. Ich umgehe sie alle. Nehme Umwege in Kauf, lose Steine, weichen Boden, kleine Rinnsale, die meine Schuhe durchnässen. Jeder Umweg ist ein kleines „ich habe dazugelernt“, auch wenn ich mir das nicht laut zugestehe.
Die Welt um mich herum ist hart und schön in einem. Grau, weiß und braun. Hier und da ein Flecken Grün, der sich an einem Stein festhält. Wasser, das irgendwo über einen Absatz fällt und sich gleich wieder beruhigt. Der Himmel hängt tief, doch die Wolken zerreißen immer wieder und geben Ausschnitte von Blau frei, so klein, dass ich sie fast übersehe. Es riecht nach nasser Erde, altem Schnee und der winzigen Hoffnung auf einen trockenen Abend.
Aus der Ferne sehe ich irgendwann eine Hütte. Ein dunkler Fleck in der Landschaft, mit einem roten Punkt auf der Veranda. Eine Jacke, denke ich. Ein Mensch. Vielleicht sitzt da jemand und trinkt Tee, schaut mir entgegen, hebt die Hand zum Gruß. Dieses kleine Bild trägt mich über die letzten Höhenmeter.
Als ich um die letzte Geländekante biege, ist die Veranda leer. Niemand mehr da.
Die Tür ist verriegelt. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach fünf am Nachmittag. Wer auch immer hier war, ist längst weitergezogen. Doch so spät? Wohin denn jetzt noch. Warum so eilig?
Ob der rote Punkt vielleicht nur eine Spiegelung gewesen war, ein Lichtreflex? Diese Frage würde mich noch eine ganze Weile begleiten. Ob da nun ein Mensch war oder ich mir das alles eingebildet hatte.
Manchmal braucht das Gehirn vielleicht jemanden am Ende des Tages. Und wenn niemand da ist, zeichnet es sich jemanden in die Ferne.

Plötzlich fühlt es sich an, als wäre ich zu spät und zu früh zugleich. Zu spät für den Tee in der Sonne, zu früh für das Runterkommen im Schlafsack. Ich setze mich für einen Moment auf die Stufen, lasse den Rucksack neben mir zu Boden rutschen und schließe die Augen. Der Wind streicht über mein Gesicht, riecht nach Rauch, obwohl nirgends ein Feuer brennt. Vielleicht nur Einbildung. Vielleicht hat die Hütte ihren eigenen Duft, der in den Ritzen hängt und Geschichten erzählt.
Als die zweite Hütte endlich auftaucht, ist der Himmel heller geworden. Die Wolken haben sich gehoben, das Licht ist weich, als würde der Tag mir zum Abschluss die Hand auf die Schulter legen. Die Hütte steht auf einem kleinen Hügel, ein Fluss darunter, der in breiten Bögen um Steine herumfließt. Kein Rauch, keine Stimmen. Nur das Wasser und der Wind. Ich bin allein.
Ich zünde eine Kerze an, obwohl es noch nicht dunkel ist. Das kleine Licht macht aus dem Raum etwas anderes. Nicht mehr nur ein Unterstand, sondern ein Zuhause auf Zeit. Draußen rauscht der Fluss, drinnen knistert das Papier, das ich zum Anzünden des Ofens knülle. Es ist der Klang von „Du hast es bis hierhergeschafft“. Nicht mehr. Nicht weniger.
Später sitze ich am Fensterbrett, die Beine angewinkelt, eine Tasse mit irgendetwas Warmem in den Händen. Tee, klar, aber es fühlt sich größer an als Tee. Es ist die Erlaubnis, müde zu sein. Die Erlaubnis, den Tag mit all seinen Dummheiten und klugen Entscheidungen einfach mal zu lassen, wie er war. Nicht ständig zu reparieren und umzuschreiben.
Draußen zieht ein Vogel seine Kreise über die großen Hänge. Ich sehe ihm nach und denke daran, wie knapp das heute war. Wie wenig gefehlt hätte, und der Tag hätte einen anderen Verlauf genommen. Mit Trage, mit Hubschrauber, mit Abbruch. Ich denke daran, wie schnell aus „Das schaffe ich schon“ ein „Wie konnte ich nur“ werden kann.
Und zugleich sitzt da dieser andere Gedanke. Der, der sich leise meldet, wenn ich nach innen höre. Vielleicht braucht es genau diese Zwischenfälle, um mich daran zu erinnern, warum ich hier bin. Nicht um Videohighlights zu sammeln. Nicht um Kilometer zu jagen. Sondern um ein Leben zu leben, in dem ich meine eigenen Grenzen kennenlerne. In dem ich lerne, mit ihnen zu tanzen, statt sie zu verleugnen.

Mein Knie wird mich morgen daran erinnern. Bei jedem Aufstehen, bei jedem ersten Schritt. Nicht strafend, eher wie ein Freund, der mir zuflüstert „Pass auf dich auf. Aber hör nicht auf zu gehen.“
Der Abend legt die Berge in Schichten von Blau und Violett. Die Schneefelder wirken aus der Ferne harmlos, fast weich. Die Stelle, an der ich gerutscht bin, ist von hier aus nur ein winziger Ausschnitt in einem viel größeren Bild. Vielleicht ist das die eigentliche Kunst, den eigenen Schreck richtig einzuordnen. Ihn ernst zu nehmen, ohne ihn zum einzigen zu machen, was zählt.
Ich blase die Kerze aus, bleibe noch einen Moment im Halbdunkel sitzen und lausche. Dem Ofen, der langsam zur Ruhe kommt. Dem Wasser draußen. Meinem eigenen Atem. Irgendwo darin liegt eine kleine, leise Freude, die nichts Spektakuläres braucht. Nur einen Tag, der gut ausgegangen ist. Und die Möglichkeit, morgen wieder loszugehen.
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